Es war schon leichter, katholisch zu sein. Nicht erst seit der Veröffentlichung des Gutachtens zu sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising ist der Rechtfertigungsdruck groß. Bereits die sogenannte MHG-Studie im Jahr 2018 hatte den Missbrauch von mindestens 3677 Kindern und Jugendlichen durch 1670 Kleriker zutage gefördert. Sie war der Anlass für weitere Untersuchungen auf der Ebene der (Erz-)Bistümer. In Aachen, Köln, Berlin und nun in München wurden erste Studien veröffentlicht. Das Ausmaß an Leiden, das Betroffenen zugefügt wurde und das offenbar wird, ist erschreckend. Erschreckend ist vor allem aber auch, wie klerikale Täter von klerikalen Vorgesetzten – Bischöfen, Generalvikaren, Personalchefs und Offizialen (so die Bezeichnung für die obersten Kirchenrichter in einem Bistum) – geschützt wurden, während die von Missbrauch Betroffenen oft bis heute darum kämpfen müssen, überhaupt Gehör zu finden. Die römisch-katholische Auffassung, dass Männer durch die Weihe eine „seinsmäßige Erhöhung“ (die sogenannte ontologische Superiorität) empfangen, erweist sich in dieser Krise als fatal. Führt ein solches Übermaß an Heiligkeit nicht zu jener sakralen Sepsis, die ein Eingeständnis des eigenen Versagens, der eigenen Verantwortung und der möglichen eigenen Schuld so schwierig, wenn nicht gar unmöglich macht? Was glauben Sie denn?
Die Wuppertaler Superintendentin Ilka Federschmidt hat es in einer Stellungnahme vom 4. Februar 2022 eindrucksvoll vorgemacht, wie man konsequent und verantwortungsvoll handelt. Im Mittelpunkt stehen die Betroffenen. Um ihrer Würde willen ist es notwendig, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Das fällt vielen, die in der römisch-katholischen Kirche Verantwortung tragen, offenkundig noch schwer. In guten Zeiten wird von leitenden Klerikern eine Letztverantwortung für alles und jedes beschworen. Wer hier als Nichtgeweihter mit dem Selbstbewusstsein der Getauften und Gefirmte auftritt, muss immer damit rechnen, dass die Weihevollen Grenzen aufzeigen wollen. In Krisenzeiten hingegen ist es mit der Letztverantwortung oft nicht weit her. Was eigentlich undelegierbar ist, wird nun weitergereicht. Die, die sonst aufgrund der Weihe zu allem fähig sind, wollen jetzt nur allzu oft für nichts mehr verantwortlich sein. Darin sind sie nicht nur pubertierenden Jugendlichen ähnlich, sondern auch den ersten Menschen, die nach dem Buch Genesis im Garten Eden die Verantwortung für die Entscheidung, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben, letztlich auf die Schlange schieben. Zurück bleiben die Betroffenen, die um die Anerkennung ihres Leides kämpfen müssen – eine immerwährende Demütigung, wenn niemand die Verantwortung übernehmen will.
Das im März 2021 im Erzbistum Köln veröffentlichte Gercke-Gutachten hat auch Fälle offenbart, die mit Wuppertal verbunden sind. Einige davon sind so aktuell, dass es auch hier noch vielleicht Betroffene gibt, die ihre Last noch mit sich tragen, ohne dass sie sich jemandem anvertraut haben. Dazu gehört auch der derzeit in Köln verhandelte Prozess um Pfarrer U., der bis 2016 in Wuppertal lebte. Bisher ist der Fall an der Wuppertaler Öffentlichkeit weitgehend vorbei gegangen. Dem Aufruf von Superintendentin Federschmidt, der Betroffene einlädt, sich an ein unabhängige Meldestelle und Angebote zur Beratung zu wenden, kann ich mich für die römisch-katholische Kirche nur anschließen (siehe Hinweise am Ende des Textes).
Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Christen als Vater Jesu Christi erkennen, ist ein parteiischer Gott. Er steht auf der Seite der Leidenden und Unterdrückten. Die Kirche erlebt deshalb zu Recht eine Zeit des Gerichtes: Wer jetzt auf der falschen Seite steht, wird seine Verantwortung im jüngsten Gericht nicht mehr delegieren können. Bevor es aber soweit ist, sollten die Täter schon vor den irdischen Richter zur Verantwortung gezogen werden. Betroffene dürfen nicht länger um ihr Recht kämpfen. Es ist Zeit, ihnen Recht zu verschaffen!
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 11. Februar 2022.
Hinweis:
Das Erzbistum Köln ermutigt Betroffene und Zeugen von sexuellem Missbrauch durch Kleriker, sich an externe Bezugspersonen zu wenden. Folgende Kontaktpersonen stehen hier bereit: Petra Dropmann (Tel.: 01525-2825703, Mail: petra.dropmann@erzbistum-koeln.de) sowie Hans-Werner Hein (Tel.: 01520-1642394, Mail: hans-werner.hein@erzbistum-koeln.de). Insbesondere ist in jüngster Zeit bekannt geworden, dass vier Priester, die auch in Wuppertal tätig waren, des sexuellen Missbrauchs und der Ausübung sexualisierter Gewalt verdächtig sind. In der medialen Öffentlichkeit wurden hier (in Abkürzung) die Pfarrer E., M., U. und W. genannt.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.